verstehen , es ist ihre kunst, ihr Reich der Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen-das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht-der glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die Menschen der “modernen Ideen” beinahe instinktiv an den “Fortschritt” und die “Zukunft” glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam shon die unvornehme-Herkunft dieser “Ideen”. Am moisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmake fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder “wie es das Herz will” handeln dürfe und dergleichen gehören, Die Fähigkeit und Pflcit zu langer Dankbarkeit und langer Rache-beides nur innerhalb Seinesgleichen-die Feinehit in der Wiedervegltung, das Begriffs-Raffinement in der Freundschaft, eine gewisse Notwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als Abzugsgräben für die Affekte Neid, Streitsucht, Ubermuth-im Grunde, um gut
freund
sein zu können): alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicth die Moral der “modernen Ideen” ist und deshalb heute schwer nachzufühen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist-Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral.
Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, ihrer selbst Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich wird ein pessimisticher Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat
Feinheit
des Misstrauens gegen alles “Gute”, was dort geehrt wird-er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werdn die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren-denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Skalven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits- Moral. Hier ist der Herd für die Entsthung jene berühmten Gegensatzes “gut” und “böse”: in’s Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furch- tbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen last.
Nach der Sklaven-Moral erregt also der “Böse”, Furcht, nach der Herren-Moral ist es gerade der “Gute” der Furcht erregt und erregen will, während der “schlechte” Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt nun auch an den “Guten” diser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt-sie mag leicht und wohlwollend sein, weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der
ungefährilche
Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. Uberall, wo die Sklaven-Moral zum übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte “gut” und “dumm” einander anzunähern-Ein letzter Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwenig zur Sklaven-Moral und-Moralität, als die Kunst und Schwärrnerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk-und Wethungsweise ist-Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe als Passion-es ist unsre europäische Spezialität-schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu-jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des “gai saber”, denen Europa so vieles und beinahe sich selbst verdankt.
الفصل الرابع
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